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Spezialinteresse Autismus | Big Crunch

„DU BIST EIN GUTER JUNGE“  bölkte die Alte meinem Sohn ins Gesicht während sie ihm auf den Kopf tätschelte.

Schnell wurde klar, dass ein zu offener Umgang mit den Problemen unseres Sohnes mehr Schaden anrichtet als das es hilft. Die Menschen meinen es vielleicht gut, können aber bei Behinderungen nicht differenzieren.  Die oben beschriebene Reaktion unserer damaligen Nachbarin war einer der Gründe es schlichtweg zu unterlassen  meinem erweiterten Umfeld die Situation meines Sohnes zu erklären.

Wir haben uns nach unserem Umzug von München nach Nordhessen zunächst dafür entschieden die Behinderung unseres Sohnes diskret zu behandeln. Es gibt nach unserem Kenntnisstand keine Grundregeln für den Umgang damit, wobei viele Betroffene wohl auch mit sehr offensiven Varianten gut klar kommen. Wir wollten jegliche Form von Stigmatisierung verhindern und haben uns zunächst für diesen Weg entschieden.

Unserem Sohn gegenüber , der mittlerweile schon Unterschiede zu Klassenkameraden feststellt reden wir von einer „besonderen Logik“. Für ihn ist dies allerdings keine Behinderung, Schwächung oder Störung , sondern wir haben ihm dies vom ersten Tag nach Feststellung  an als „eben besondere Logik“ eingetrichtert. Eine ausserordentliche Fähigkeit, die nur wenige Menschen haben. Dies half sein Selbstbewusstsein zu stärken, förderte allerdings seinen Hang zum Größenwahn, der nun auch, sagen wir einmal, üppig ausgeprägt ist.

Es ist wohl aber auch nicht untypisch für Asperger-Autisten, dass sie Eigenarten , die sie an sich selbst entdecken als völlig normal erachten und jeden der sich konträr dazu verhält oder handelt für aussergewöhnlich und unnormal halten.  Dieser Blickwinkel hat es uns als Eltern unheimlich vereinfacht den Standpunkt unseres Sohnes zu verstehen.  Wenn er zu Unterrichtsbeginn inmitten seiner Schulklasse steht und vor dem Setzen fünf mal auf den Stuhl klopft ist die einzige Frage, die er sich zu stellen scheint wenn er seine 20 Mitschüler betrachtet:

„Warum klopfen diese Idioten nicht auf den Stuhl?“

Ich bin nicht stolz drauf, aber ich war der erste, der vermutete , dass mit meinem Sohn etwas nicht so ganz stimmte. Ich war verwunderte über seine Art Freude oder positive Aufregung auszudrücken. Bewusst aufgefallen ist es mir das erste Mal als er 2 Jahre alt war. Wir bauten die Strecke für die Holzeisenbahn zusammen auf und er kniff alle 2-3 Minuten die Augen zusammen während er gleichzeitig recht verkrampft die beiden Unterarme zueinander führte, seine Hände wie zum Gebet faltete und gleichzeitig vor und zurück wippte.

Es war so diese klassische Reaktion, wie sie vielleicht viele meines Alters (BJ 77) haben , weil man sich an den Film „Rain Man“ erinnert fühlt, wenn man das Wort  „Autismus“ denkt oder „Autist“ hört. Und natürlich ist dies ein Fehler und meiner mangelhaften Aufklärung zum Thema Autismus geschuldet, denn „Rain Man war ein Savant, eine

Der Gedanke war jedoch schnell verworfen, weil ich eben an diesen Film denkend enorm viele Abweichungen fest stellen konnte. Und ausserdem gab es sonst bis dato keinerlei Besonderheiten.

Alle Auffälligkeiten , die danach bis zur Diagnose auftraten , waren für uns keine Auffälligkeiten , sondern waren Bestandteil der Entwicklung unseres Kindes.

Es war ja auch das erste Kind. Da hält man nun mal Dinge für normal; leider aber auch normale Dinge für die sicheren Anzeichen von etwas sehr bösen, schrecklichen oder grauenhaften. Das gehört wohl unabhängig von Einschränkungen und Behinderungen zum sorgevollen Umgang von Eltern beim und mit ihrem ersten Kind.

Spätestens jetzt wo wir mit unserer 2-jährigen Tochter ein weiteres wunderbares kleines Lebewesen beim groß werden unterstützen und beobachten dürfen, kristallisieren sich Unterschiede natürlich deutlicher heraus. Mal ganz abgesehen davon, dass man beim zweiten Kind wesentlich cooler und sachlicher mit allen Herausforderungen umgeht ist auch der gesamte Hype ein anderer. .

Mein Gott, was haben wir ein Brimborium veranstaltet. Die Sohnemann – Kiste im Keller ist gefüllt mit den Erinnerungen der Entwicklung unseres ersten Kindes. Die Nabelschnur, die ersten Haaren, der erste Popel, der erste Strampler, Zeitungen und Magazine vom Geburtstage….

Von Kind zwei existiert glaube ich lediglich noch die Geburtsurkunde.  Kind 3 könnte, sofern es denn käme wohl froh sein wenn es noch einen Namen bekommt.

Aber abgesehen von diesen der Elternroutine geschuldeten Phänomenen gibt es riesige Unterschiede. Und die negativen Eigenschaften überwiegen in ihrer Anzahl eindeutig. Er ist die oft beschriebene tickende Zeitbombe, allerdings mit unsichtbarem Countdown. Bereit zu explodieren  Jederzeit.

Man lernt auch die guten Seiten zu schätzen. Unser Sohn lügt nicht. Er sagt schonungslos offen die Wahrheit. Völlig gnadenlos. Mittlerweile mag ich das.  Wenn er auf der Couch liegt und meine Frau Ihn dann anschaut, so wie vermutlich nur Mütter Ihre kleinen Söhne anhimmeln und er dann fragt:  „Mami, was guckst du so blöde?“

Herrlich.

Er ist eben nur nie so richtig kindisch. Das vermisste ich wohl so sehr, dass meine Frau zeitweise vermutete ich würde diesen fehlenden Charakterzug seiner Entwicklung für ihn nochmals ausleben wollen. Aber das ist Unsinn. Schatz, falls du das liest: Ätschi-Bätschi!

Spezialinteressen

Wie bereits beschrieben können sich Autisten in Spezialthemen, Themengebiete für die sie sich sehr interessieren reinsteigern, so dass sie sich ein absolut widerwärtig detailliertes Detailwissen aneignen können.

Eines seiner aktuellen Topthemen ist  neben dem Zugfahren das Universum. Welcher Planet hat welchen Durchmesser, welcher Planet ist gasförmig, welcher Planet hat wie viele Monde; Wo liegt der Io , Was sind Protuberanzen, Wann ist wieso mit dem Big Crunch zu rechnen und warum gibt es im All rote Riesen?

He knows.

„Ist doch toll!“ höre ich oft.

Ja, in einigen Fällen schon, aber wenn im Kindergarten beim Turnen ein Raketenspiel gespielt wird und die Raketen (Kinder) nach und nach auf unterschiedlichen Planeten (Matrazen) landen müssen, dann kann ein  Vierjähriger schon einmal Verwirrung stiften , wenn er der Kindergärtnerin erklärt, dass dieses Spiel unlogisch ist, weil man auf dem gasförmigenJupiter gar nicht landen kann und das Spiel dadurch sinnlos ist.

Ich gebe zu, das ist noch eine der lustigen Geschichten, aber dahinter verbirgt sich eines der größten Probleme , die zumindest unser Sohn hat. Man stelle sich ein fünfjähriges Kind vor welches alle Planeten in der Reihenfolge Ihrer Entfernung zur Sonne mit den dazugehörigen Monden aufzählen kann ,aber nicht in der Lage ist einen Weg zum Kindergarten ein einziges Malin kleinster Abweichung  anders zu gehen als er es gewohnt ist.

Man stelle sich ein dreijähriges Kind vor welches bereits bis 50 zählt, bis 10 rechnet , alle Buchstaben kennt , aber nicht in der Lage ist einem anderem Kind zur Begrüßung die Hand zu geben oder es in den Arm zu nehmen. Es ist die fiese Kombination aus hoher Intelligenz einhergehend mit der Sozialkompetenz eines Telefonbuchs, die aus unserem Sohn ein perfektes Mobbingopfer macht. Er wirkt wie ein Klugscheisser, weil er oft altklug oder hochgestochen spricht und viel weiss, gleichzeitig aber Grundregeln des sozialen Miteinanders nicht beherrscht oder sehr mühsam erlernen muss. Dazu hat er motorische Schwächen, was ihn bei sportlichen Aktivitäten meist zu den Schwächeren zählen lässt.

Aus dem Umgang der Mitschüler mit den motorischen Schwächen entsteht eine Verunsicherung, die dazu führt, dass er jegliche sportliche Aktivität in der Gemeinschaft meidet. Dadurch fehlt es an Trainings und Entwicklungsmöglichkeiten. Ein Teufelskreis.

Ich könnte Tage am Stück mit Beispielen füllen. Kleine Beispiele mit immensen Wirkungen.

Nach dem ersten Diagnoseschock haben meine Frau und ich die „Ticks“ unseres Sohnes in eine Liste geschrieben und haben uns vorgenommen diese Schwächen Punkt für Punkt, sorgsam zu bearbeiten, zu begleiten und abzustellen. Im Zeitraum von Analyse, Training und nachhaltiger Beseitigung eines Mangels sind allerdings zehn neue Probleme aufgetaucht, so dass wir uns irgendwann auf die Kernproblematiken konzentriert haben.

Vielleicht ein Beispiel.

Unser Sohn hat sich bis zu seinem 6.Lebensjahr nach dem Verrichten seines großen Geschäfts den Po nicht alleine gesäubert. Trotz intensivster Bemühungen durch Erpressung (hohe Belohnungen), motorischer Unterstützung, und dem Singen motivierender Klo-Songs ist es uns nicht gelungen ihn wenigstens zu einem Versuch zu bewegen. Er kam teilweise mit Krämpfen aus dem Kindergarten und stürzte sich auf Toilette und hatte dementsprechend oft Bauchschmerzen und Magenprobleme. Gespräche mit den Kindergärtnerinnen brachten nichts. Das Kind müsse im Kindergarten nun mal nicht. Blablablablabla.

Auf einer unserer ersten gemeinsamen Touren kamen wir auf das Thema zu sprechen.

Jason hatte sich Mamas und Papas Worte zu Herzen genommen und im Kindergarten Bescheid gesagt, dass er Hilfe braucht , nachdem er das erste Mal dort sein auf der Toilette größere Aufgaben erledigt hat. Die anscheinend leicht überforderte Kindergärtnerin zeigte Ihm wo das Papier ist und teilte ihm mit , dass das ja nicht so schwer sein kann. Er solle sich Papier nehmen und seinen Hintern abputzen. Es mag für den ein oder anderen ulkig klingen, aber für jemanden mit der Feinmotorik eines Schaufelbaggers und der Koordinationsgabe eines betrunkenen St.Pauli Fans nach dem Kantersieg gegen den HSV ausgestattet, ist dies motorisch schon eine Herausforderung für einen kleinen Mann ( ca. 3 ½ ).

Es ging schief. Überfordert mit der Situation und Kot an der Hand stand er nun da in der Gemeinschaftstoilette und rief seine Mama und seinen Papa , die ihm ja immer gesagt haben, dass sie immer, I-M-M-E-R ,  für ihn da sind. Sie waren es aber nicht. Danach hat er drei Jahre lang kein großes Geschäft mehr verrichtet, wenn nicht Mama oder Papa direkt neben ihm standen. Und wir wussten nicht warum.

Bis zu diesem besagtem Tag auf einer unserer Touren , die zunächst noch recht planlos unter dem Titel „Männertag “ durch Deutschland führten.

„Warum habt ihr denn gesagt , dass ihr immer für mich da seid wenn das dann gar nicht stimmt?“

Papa war sprachlos.  Zum wiederholtem Male wurde es meiner Frau oder mir zum Verhängnis , dass wir nicht bedacht haben wie wörtlich unser Sohn uns nimmt, wie unglaublich wichtig 100%ige Verlässlichkeit ist.

Durch seine Offenheit auf den ersten Reisen beschloss ich regelmäßiger mit ihm durch Deutschland zu touren. Es waren hilfreiche Gespräche, die wir so auf den meist langen Fahrten ungezwungener führen konnten und wo ich mal gezielt mal unerwartet Informationen zur Beseitigung weiterer Ticks sammeln konnte.  Bei aller Vater-Sohn Beziehungsromantik also auch mal die nackte, pure Berechnung.

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3 Comments

  • IchHalt
    IchHalt

    Danke für diesen Einblick sehr interessant.

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  • Doreen Kröber

    Herrlich:-))

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  • mädel

    Der Artikel gefällt mir bis auf den Bezug auf Rainman. Rainman ist nach dem Vorbild Kim Peek erschaffen worden und ist ein Savant. Savants sind nicht zwingend Autisten und nicht jeder Autist ist Savant. Ich weiß aber das viele so denken.
    Autisten haben keine Inselbegabungen, das haben auch die Savants. Dafür Spezialinteressen.

    Ansonsten sehr gut geschrieben 😀

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