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Wochenendrebellen

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Festgehalten

Hey Jason.

Es passiert gerade viel. Bei Dir, bei mir, bei allen. Es gab zwei oder drei Momente in der jüngeren Vergangenheit, wo Du mich Dinge fragtest, die ich Dir zu dem Zeitpunkt nicht beantworten wollte oder konnte. In unregelmäßigen Abständen halte ich hier für Dich fest, was Dich, Dein Umfeld und Menschen, die Du magst, bewegt hat. Alles was Dich beschäftigt, wütend, glücklich oder neugierig gemacht hat. Dinge, Nachrichten, Geschehnisse, die Dich vielleicht motivierten, verwirrten oder fraglos zurück ließen, aber erst einmal in keinem Kontext zu unserem Projekt stehen.

Vielleicht will ich Dich damit retrospektiv beeinflussen, vielleicht will ich mich entschuldigen, vielleicht will ich erklären, was schief gelaufen sein könnte. Hauptsächlich möchte ich aber festhalten. Das Jetzt. Medial, in mir, und um uns herum. So seltsam schön oder auch antreibend ekeleregend uns das Leben auch anmutet. Nur festhalten. Den Rest der Zeit konzentrieren wir uns lieber darauf, Dich mit der Power auszustatten, dass Du es einmal besser machst – oder bei den Aufräumarbeiten hilfst.

Vor einigen Wochen waren wir in einem Flüchtlingsheim in einem kleinen Ort bei Kassel. Calden, ein Ort mit ca. 3.000 Einwohnern im Kern, einem Edeka, einer Tankstelle, einem Metzger, Bäcker und einer Post, beherbergte auf einem alten Flugplatzgelände ca. 1.500 Flüchtlinge aus Syrien und dem Kosovo. Ich stand frühzeitig mit der Leitung der Einrichtung in Kontakt, weil wir mit einem kleinen Projekt etwas Geld sammelten, welches ich gerne ganz direkt ohne administrative Filter dort landen lassen wollte, wo es hingehört. Bei den Menschen, die meist nur das mitbrachten, was ihr Rucksack schützen und tragen konnte.

So hielt ich es dann eigentlich auch für unproblematisch, als Du an einem heißen Tag vorschlugst, Eis für die Kinder in die Einrichtung zu bringen. Um bezüglich der hygienischen Bestimmungen für die Ausgabe von Lebensmitteln auf Nummer sicher zu gehen, und um die Anzahl an Kindern zu erfahren, fragten wir zur Sicherheit vorab bei der Einrichtungsleitung nach. Man bat uns dringlich, kein Eis zu bringen, denn die Lage wäre insgesamt unter Kontrolle, aber es gäbe Anspannungen aufgrund der Enge, der noch nicht optimierten Abläufe bei der Essensausgabe und Schwierigkeiten, weil die Duschen nicht genügend Warmwasser liefern. Das war im August. Es hatte an die 30 Grad.

Du hast damals nicht verstanden, warum dies ein Problem darstellen sollte. Jedes Kind hätte ja sein Eis bekommen. Ein bisschen Eis kann kaum der Auslöser für Neid, Missgunst oder Probleme sein. Wir fügten uns aber natürlich der Entscheidung.

Einige Tage später entschied der ortsansässige Marktleiter des Edeka, seinen Markt von Securities schützen zu lassen, da vermehrt größere Flüchtlingsgruppen Verpackungen aufrissen und somit Schäden anrichteten. Ich hatte zunächst wenig Verständnis für diese Maßnahme, sah aber ein, dass der Marktleiter sich zu dem Zeitpunkt nicht anders zu helfen wusste, und er auf kommunalpolitischer Ebene auch ziemlich im Stich gelassen wurde. Zeitlich parallel zu den Begrüßungs-Szenen an den Bahnhöfen in München oder Dortmund hatte sich einige Zeit später, so schien es, die Lage stabilisiert. Die Securities standen nun nicht mehr vor dem Edeka und entschieden, welche Personen nichtdeutscher Herkunft, in welcher Gruppenstärke den Markt betreten durften, sondern im Eingangsbereich, und halfen Flüchtlingen mit Zeichensprache und ersten gelernten Worte der jeweiligen Sprache, in welcher der Verpackungen sich Zucker befindet und erklärten freundlich den Unterschied zwischen Rasierschaum und Schlagsahne. Es wird viel gelacht.

Natürlich war das Problem nicht gelöst, aber es war angenehm zu sehen, dass sich viele der Herausforderung stellten, die der „Flüchtlingsstrom“, der „Flüchtlingstsunami“ oder wie auch immer man in der braun geprägten Ecke die vorhandenen Bewegungen in der Welt darstellen wollte, mit sich brachte.

Natürlich versagt man auf politischer Ebene. Im Kleinen, auf kommunaler Ebene z.B. , weil die notwendigen Entscheidungsträger für die Einleitung des rechtzeitigen Baus wintertauglicher Einrichtungen in kleineren Orten in ihren Sommerurlauben verweilten und wertvolle Zeit verstrich. Auf regionaler Ebene, weil politische Lokalgrößen, Bürgermeister und Bundestagsmitglieder in manchen Bundesländern abtauchen, quasi ein Rückzug der Demokratie, ein Schwanz einziehen zu Gunsten des Rechtsextremismus und den Stimmen aus der braunen Ecke. Und auf nationaler Ebene, weil man nur deutlich genug die Abschaffung des Grundrechts auf Asyl fordern musste, das ganze mit panikmachenden Zahlen garnierte und dann fast schon heimlich, still und leise ohne größere Gegenwehr einer sowieso nicht existenten Opposition, eine massive Verschärfung des Asylrechts durchboxen konnte. Aber letztendlich trifft auch keinen der Bürgermeister die Schuld, dass nun völlig aus heiterem Himmel Flüchtlinge in größerer Zahl nach Deutschland kommen. In Anbetracht der Relationen, die ich in manch kleinerem Ort lese, ist für mich oftmals trotzdem ein gewisses Maß an Besorgnis verständlich. Dies muss ja nicht zwingend mit den Gedanken an vergewaltigende, mordende und raubende eingeschleuste Terrorschläfer einhergehen. Sondern einfach mit der Tatsache, dass der Bus, der über das Flüchtlingsdorf fährt nun täglich überfüllt ist, oder es zu Verzögerungen kommt, weil es Diskussionen bezüglich des Ticketpreises gibt. Ja, ich kann Besorgnis auch für kleinste Probleme ernst nehmen, wenn sie nicht als Grund für ein fremdenfeindliches Gedankengut herhalten müssen. Wobei fremdenfeindlich wohl auch eher islamisch-männlich geprägt ist, da wir die Diskussionen um die vielen jungen Männer sicherlich nicht führen würden wenn hunderttausende vollbusige Schwedinnen, das Leben des sächsischen Singles bereichern würden.

Ich war erstaunt, wie schnell hier jetzt drastische Gesetz relativ kommentarlos abgesegnet werden. Würde ich Dich bitten, mir acht Stunden die Füße zu massieren, um mich dann auf zwei Stunden runterhandeln zu lassen, wären meine Erfolgsaussichten selbst bei maximalen Geschick eher schlecht, oder? Du hättest früh Lunte gerochen und mir unmissverständlich meine Grenzen aufgezeigt. Doch wir wählen oder besser dulden in der Masse häufig das kleinere Übel. Ein grundsätzliches Problem. Gewöhne Dir das nicht an. Akzeptiere bitte nur die beste Lösung, toleriere Kompromisse, aber lass Dir Deine Werte und Maßstäbe nicht von politisch-taktischen Spielchen verfälschen oder medial irgendwelche Horrorszenarien einreden. Wenn es hart auf hart kommt, sorgen manche Medien schnell und gerne für weiche Knie, die große Teile der Politik in solchen Zeiten dann auch gerne klammheimlich als chronischen Zustand zu beklagen haben.

In besagtem Calden ist es nun kürzlich zu einer Massenschlägerei gekommen.

Aus den achthundert Flüchtlingen, die dort im August untergebracht wurden, sind zwischenzeitlich eintausendfünfhundert geworden. Von den zehn Duschen funktionieren noch sechs. Leider gibt es weiterhin nicht genügend warmes Wasser in Calden, was bei den aktuellen herbstlichen Temperaturen nochmals wichtiger geworden ist. Selbst wenn die Duschen vierundzwanzig Stunden durchliefen, hätte jeder Bewohner bei fliegendem Wechsel 5,7 Minuten Zeit pro Tag, um sich der Körperpflege unter der Dusche zu widmen. Für die Ausgabe von Essen muss man über eine Stunde anstehen, und die medizinisch wichtigen Untersuchungen wurden von Woche zu Woche nach hinten geschoben, weil einfach nicht genügend Kapazitäten vorhanden sind. Es gibt also auch im dritten Monat ihrer Unterbringung massive Probleme, die unabhängig von Kultur, Hautfarbe und Religion für Unruhe sorgen würden. Die medialen Äußerungen und die daraus folgenden Reaktionen im Caldener Umfeld zeigen mir recht deutlich, dass wir nicht Angst haben müssen vor den Fremden, es sind eher diese seltsamen Einheimischen die uns Gedanken bereiten sollten. Sie sind nicht in der Mehrheit, aber sie sind zu laut. Unwidersprochen.

Die besagte Auseinandersetzung hat Frank Thonicke, Leiter der Lokalredaktion der HNA, zu einem Kommentar bewegt, in dem es unter anderem hetzt:

Rote Karte wegen Regelverletzung, und ab auf die Sünderbank im Heimatland.

Denn egal, ob sie kamen, um ihr Leben zu retten oder hier sind, weil das deutsche Taschengeld höher ist als der Lohn zu Hause – sie sind zu Gast bei uns, genießen hier Schutz für Leib und Leben. Und als Gast hat man sich nach den Gepflogenheiten des Gastgebers zu richten. Ganz einfach gesagt: Man benimmt sich.“

 Den Rest kannst Du hier nachlesen:

http://www.hna.de/kassel/nach-hause-5573436.html

Du hast in der Vergangenheit viel gelernt, Jay-Jay. Du weißt, dass Du Menschen ins Wort fallen darfst, wenn sie sagen „Ich habe nichts gegen Ausländer aber, …“ um den Satz zu beenden mit, „Du bist ein Arschloch“. Aber es ist auch einfach mit diesen Menschen, sie sitzen im Wartezimmer des Amtes für Hass. Ruf irgendeine Nummer auf und es heben stumpf alle die Hände. Ich glaube es ist wichtig, dass du diese Menschen erkennst. Lassen Sie sich nicht überzeugen, muss man sie meiden und ächten. Es gibt keine Atmosphäre in der du unbedenklich mit der braunen Hass-Brut diskutieren kannst. Es gibt vielleicht Skeptiker*innen, Unentschlossene und auch Unwissende, aber eben auch berechnend, kalt kalkulierendes Rassistenpack. Ein weiterer sehr anschaulicher Kommentar zu den Vorfällen in Calden kommt von Claudius Holler, den ich hier einmal rüberkopiert habe, um Dich vor den Kommentaren zu schützen. Er fasst kompakt das Problem in Calden und in vielen weiteren Orten zusammen. Im Hinblick auf den Winter sollten wir das nicht vergessen, denn medial wird das Paradigma des Flüchtlings, seine Probleme, seine täglichen Erduldungen wohl keine große Rolle mehr spielen. Die Rahmenbedingungen unter denen diese Menschen nun bei uns leben, dürfen nicht in Vergessenheit geraten.

Kommentar von Claudius Holler.

„Ausschreitungen unter Refugees

  1. Wo Menschen sind, ist Potential für Gewalt
  2. Wo viele Menschen sind, ist mehr Potential für Gewalt
  3. Wo viele Menschen auf engstem Raum sind, ist noch mehr Potential für Gewalt
  4. Wo viele Menschen auf engstem Raum in prekären Verhältnissen sind, ist noch viel mehr Potential für Gewalt
  5. Wo viele Menschen mit dramatischer Vorgeschichte auf engstem Raum in prekären Verhältnissen sind, ist noch viel viel mehr Potential für Gewalt
  6. Wo viele Menschen mit dramatischer Vorgeschichte auf engstem Raum in prekären Verhältnissen und unter der Knute von übergriffigem Personal sind, ist noch so viel viel mehr Potential für Gewalt

Und jetzt hört auf mir irgend etwas von fehlender Dankbarkeit oder aggressiver Kultur zu erzählen. Wir versagen gerade auf politischer Ebene. So sehr, dass selbst die über engagierteste Zivilgesellschaft es nicht kompensieren kann.

Jede Fressbudenklimbimveranstaltung mit Publikum franst eskalativ aus. Selbst im kleinsten Club kann es hektisch werden. Und wer sieht, wie höflich sich zwei Menschen gegenseitig ihr gleichzeitiges Interesse am einzigen leeren Parkplatz schildern, weiß genau: Die Konflikte, die wir bezeugen, sind ungut, aber hausgemacht.“

Hier ergänzend der Link dazu, der direkt zu Claudius Facebookseite führt, aber wie gesagt bitte ich um Vorsicht, denn die Kommentare zeigen auch, dass die Dummheit des Menschen unantastbarer ist als dessen Würde.

Updates

06.10.2015 HNA Artikel:  Ein Zaun soll Flüchtlinge von Firmen trennen.

07.10.2015 HNA Artikel: Zeltstadt wird winterfest gemacht. Das betrifft aber nur die elf Großzelte. 27 Zelte nicht Winterfest. Gestern hat es geschneit.

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3 Comments

  • David
    David

    Wie so oft, meine Gedanken beim Lesen:

    „Mann… das ist der empathischste, menschlichste und darum letzten Endes klügste Text, den ich seit Langem gelesen habe.“ Ein Blog, das mich trotz (oder gerade wegen?) meiner Rolle als Zuschauer von Außen ermutigt, gedanklich und menschlich offen zu bleiben (und vermehrt zu sein), mich gleichermaßen herausfordert, emotionalisiert wie mit Geschichten aus dem ganz normalen Leben (offensichtlich sehr feiner Menschen) versorgt.

    Wie viel mehr kann ein Blog für mich als Leser leisten?

    Ganz große Klasse. Meinen Dank dafür. Ihr baut hier gemeinsam etwas ganz Besonderes auf, nicht nur für euch selbst.

    Lieben Gruß,
    David

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  • Anita
    Anita

    Hallo JayJay,

    Du bekommst eine sehr große Möglichkeit durch Deinen Papa. Die Möglichkeit eines differenzierten Blickes auf Menschen. Und eine klare Haltung gegenüber dem braunen Mob.

    Lieber Rebell,

    das Ex darfst Du getrost streichen. Du wirst niemals ein Ex-Rebell sein. Das ist nicht Deine Natur. Und ich finde es klasse.

    Du hast meine volle Hochachtung für Deine klare Haltung, Dein Engagement und wie Du es auch für Kinder verständlich machst.

    LG Anita

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  • Teilzeitborussin
    Teilzeitborussin

    Wow. Ich finde das ganz wunderbar und ausdifferenziert geschildert. Ich bewundere ja eh schon deine Energie, mit der du dich gegen den Rassismus-Tsunami stemmst, der unser Land überschwemmt. Aber daneben auch noch genug klaren Kopf zu behalten, um die ganz kleinen Sorgen der ganz kleinen Leute zu würdigen und nicht alle in denselben Sack zu stecken, ist wirklich eine große Stärke.
    Und der Populismus um die „Gäste“- und „Benimm“-Debatte kotzt einen einfach nur an. 1.500 Menschen auf engstem Raum zusammenzupferchen und dann zu schauen, was passiert, ist das widerlichste und zynischste sozialpsychologische Experiment, das man anstellen kann. Versagen in ganz großem Stil.

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