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Volkswagenarena

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Es gibt Tage, die beginnen eher schlecht, und enden noch schlechter. Zum Teil trifft dies zu auf unseren Stadionausflug vom vergangenem Sonntag zu. Samstag Abend hatten wir uns nach langer Diskussion entschieden, das Spiel des Karlsruher SC gegen den 1. FC Nürnberg anzuschauen. Keine zwölf Stunden später schmissen wir die Pläne auf Grund eines verpassten Zuges wieder um und entschieden uns für einen Besuch der pulsierenden Fußballmetropole in der Volkswagenarena in Wolfsburg.

Ich würde ja gerne viel Negatives berichten, weil es mittlerweile zum guten Ton gehört, jeden außer den eigenen Verein in jedweder Art zu diskreditieren. Klar könnte man das durchgestylte Stadion negativ anführen, sicherlich liegt der Zuschauerschnitt, abzüglich des Familienblocks, der Gästefans, aller Rentner und dem Betriebsrat von VW, im vierstelligen Bereich. Natürlich missfiel uns der „Danke-Bitte“-Kram, sowie der unsäglich Einmarsch unter dem eskalierenden Stadionsprecher (schrie er wirklich: „Let’s get ready to rumble?“ – Man weiß es nicht).

Trotzdem konnte ich dem Besuch der Volkswagen Arena tatsächlich einiges abgewinnen. Das die EC-Karte als Paycard genutzt werden kann, sollte Standard werden (falls dem nicht sogar mittlerweile schon so ist), die Akkustik ist auch bei nicht voll besetztem Gästeblock durchaus in Ordnung, und auch die Heimfans waren durchaus aktiv und hörbar, was vielleicht aber auch dem idealen Spielverlauf geschuldet war. Zudem hatte der Sohn sich früh gegen Wolfsburg entschieden, weil „die einen Kreis machen“, und Wölfi, das Maskottchen, blöd und ominipräsent war. Auch dies war meiner positiven Stimmung eher zuträglich, abgerundet wurde das Ganze von einem ziemlich guten Kaffee.

Letztendlich muss ich aber zu meiner Schande gestehen, dass ich mir Wolfsburg an sich hässlicher vorgestellt hätte, und dass in Verbindung mit dem munteren Spiel wir ja auch die ein oder andere Spielerperle begutachten durften. Das war schon o.k. so. Vielleicht waren wir aber auch nach der längeren Pause einfach beide nur fußballerisch ausgehungert, so dass der Anblick der däbröinschen Ballbehandlung und der Rodriguezeresken Ballsicherheit schon Befriedigung schaffte.

Wolfsburg dürfte am Ende des Tages wohl trotzdem nicht in die engere Wahl kommen, denke ich zumindest, ohne das es der Sohn explizit ausschloss.

Vermutlich haben wir es der Hostess zu verdanken, die den Sohn in „Wölfis Höhle“ zu den anderen Kindern einladen wollte, vielleicht lag es auch am armselig besuchten Veltins-Freibierstand am Bahnhof oder an den insgesamt drei Glücksrad-Aktionen, bei denen zwei Mal ein VW-Ballon und einmal ein Veltins-Kugelschreiber raussprang.

Wir beide empfanden den Besuch beim VfL Wolfsburg beide recht schnell als einen entspannten Ausflug zum Fußball und erwägten wohl zu keinem Zeitpunkt, die Autostädter ernsthaft in die engere Auswahl zu nehmen. Das hoffe ich zumindest.

Der Sohnemann ließ sich auf der Hinfahrt erklären, was eine Vierunddreissiger-Saison ist, wann er Mitglied von einem Verein werden kann, was beides mit dem VfL Wolfsburg sicherlich einfacher zu erreichen wäre als beim VfR Aalen. Trotzdem. Ich wehre mich. Keine Ahnung warum, aber ich möchte das nicht.

Die Vierunddreissiger-Saison. Die macht mir Angst. Auch wenn er schnell verstanden hat, dass dies kein Projekt für nächstes Jahr ist, und wir vorher sicherlich noch ein paar Etappenziele zu erreichen haben. Er würde gerne eine Sechsunddreissiger-Saison machen. Alle Vereine der ersten und zweiten Liga innerhalb einer Saison. Gute Ideen hat er ja. Ich habe ihm gesagt, dass ich mir überlege, ob dass die Belohnung wird, wenn er den Marathon schafft. Den hatte er gedanklich schon wieder kurzzeitig verdrängt, aber insgesamt ist abzusehen: An Projektideen mangelt es ihm nicht. Und der kleine Drecksack ist hartnäckig und ehrgeizig. Und er vergisst nicht.

Am vergangenem Wochenende hat er mich wieder erwischt. Ich bestellte einen Container. Es wurde einfach wieder Zeit. Das Aufheben, Sammeln und messieeske Verwahren von Dingen, gleich welchen Zustands, stellte uns langsam aber sicher vor erste Platzprobleme. Mein Loch im Keller, wie der Sohn meinen ganz privaten Bereich bezeichnet, platzte aus allen Nähten mit Spielzeugen, Erinnerungsstücken, Kastanienbaumstammscheiben, Stöcken, bemalten Pappkartons, aus Dosen gebauten Schiffen, aus Holzbrettern zusammengenagelten Mobiltoiletten, Zeitungen, Zugfahrplänen, gemalten und auf Din-A0 zusammengeklebten Bilder, sowie meinem persönlichen Highlight:

Eine Tüte Scherben mit der Aufschrift: „Muss Papsi zusammenbauen“.

Die letzte Entsorgung ist vier oder fünf Jahre her. Ich entsorgte damals unter anderem einen Weinflaschenhalter, der einem antiken Fahrrad nachempfunden war, sowie einen Stofftierdino, dem ein Bein fehlte und der an so vielen Stellen gerissen war, dass er laufend kleine Styroporkügelchen verlor. Jay-Jay wollte damals wissen, was damit passiert, und da ich wusste, dass er eine Entsorgung nicht akzeptieren würde, griff ich zu einer kleiner Notlüge. Glücklicherweise stand auf dem Container damals „Recycling aller Art“, so dass ich ihn von der Wiederverwendung der Utensilien überzeugen konnte. Dies reichte ihm zwar bei seinem Dinosaurier als Entschuldigung nicht aus, aber er akzeptierte es, nachdem ich erneut schwindelte und sagte, sie würden zunächst versuchen, alles zu reparieren und es dann zurücksenden.

In den vergangenen Jahren sprach er mich so oft darauf an, ob ich schon was vom „Reparaturdienst“ gehört hätte und wann die sich endlich melden würden und wo man sich da beschweren könnte und wo man ggf. einfach dann den defekten Dinosaurier abholen könnte, dass es mir extrem unangenehm war. Hätte ich diesen verdammten Dinosaurier irgendwo in identischer Farbe und Form gesehen, hätte ich ihn wohl gekauft.

Mittlerweile hat er natürlich längst verstanden, was damals passiert ist, aber er er möchte sich den Verlust nicht eingestehen und gleichzeitig zugeben zu müssen, dass der Dinosaurier tatsächlich weg ist. Das Eingeständnis würde ihm vermutlich weh tun. Vielleicht verstehen Sie jetzt warum der HSV ziemlich weit hinten auf unserer Besuchsliste steht.Ich habe einfach Angst.;)

Am Wochenende haben wir alles perfekt vorbereitet. Die meisten zu entsorgenden Sachen haben wir vorab in die Garage verfrachtet, die sich ca. 100 Meter Luftlinie befindet und weder vom Haus noch vom Garten aus sichtbar ist. Der Container wurde vor die Garage gestellt, so dass der Sohnemann im Normalfall rein gar nichts mitbekommen hätte.

Es fehlten nur noch zwei oder drei Kleinigkeiten aus dem Loch und der Container wäre final befüllt gewesen. Unter anderem fehlte das Treppenschutzgitter, welches defekt war, weil ich davor trat, und welches der Sohn aufheben wollte, weil er daraus ein Gefängnis für seine Schwester bauen wollte. Wir sind eben doch irgendwo eine ganz normale Familie. Jason folgte mir, nachdem er mich mit dem Gitter hat entschwinden sehen, erst unauffällig, dann laut mit sich selbst redend:

„Ich muss jetzt doch mal kontrollieren, was der Papsi da an der Garage macht.“

Das Gezeter war groß. Zu Beginn jedenfalls. Ich erklärte ihm die Lage, und dass nun ein Punkt erreicht sei, dass wir nicht einmal mehr Weihnachtsgeschenke sicherstellen können, weil die im Anschluss im Haus gar keinen Platz mehr haben. Die Diskussion dauerte zehn Minuten und fand erstaunlich sachlich statt. Er bestand darauf, dass er aus dem Container ein Teil retten dürfe und fragte, was genau aus den einzelnen Sachen im Rahmen des Recycling-Prozesses hergestellt würde und wie diese Sachen dann wiederum bei ihm landen würden. Ausserdem musste ich versprechen, dass nun kein Container mehr bestellt wird, keine seiner Sachen mehr ungefragt entsorgt werden und er dafür vielleicht das ein oder andere zum Verkauf bereitstellt. Weihnachtsgeschenke benötige er keine, er wäre ziemlich glücklich mit dem, was er habe. Es wäre aber schön, wenn wir uns die Mühe machen würden und vielleicht ein paar Teile seines aktuellen Spielzeugbestands einpacken könnten, damit er dann zu Weihnachten etwas auszupacken hat. Das würde ihm genügen. Ich solle ihm aber nicht verraten, welche Teile. Es soll ja eine Überraschung sein. Ich sag ja: Eine ganz normale Familie.

Der VfL Wolfsburg möge es mir verzeihen, dass ich hier ein wenig abdrifte, aber mir fällt zum Spielbesuch nicht mehr so wahnsinnig viel ein. Vielleicht waren wir zu entspannt, zu unkonzentriert, oder hatten einfach nur zu viel Spaß und haben zu wenig verrückte Menschen getroffen.

Abseits des Fußballs steht uns auch verrückter Spaß ins Haus. Jason wird mir vermutlich demnächst seine große Rutschenperformance präsentieren.

Ich deutete dies ja schon das ein oder andere Mal an, aber Jason Angst vor Wasser war im Alter bis fünf Jahre sehr ausgeprägt. Meine Eltern waren diejenigen, die sich dessen annahmen, und mit ihm ans Meer fuhren. Sieben Tage lang stand er maximal knöcheltief im Wasser und feierte sich für seinen imposanten Mut. Die Situation besserte sich von Urlaub zu Urlaub, den er mit seinen Großeltern machte. Wir unterstützen die Wasserabhärtungstherapie, so gut wir konnten. Wir wohnten noch in der Nähe von München und fuhren so oft wie möglich mit ihm in die Therme nach Erding. Nach mehreren Urlauben und trölfzigtausend Thermenbesuchen traute sich Jay-Jay schon bis zur Brust ins Wasser, und das Haarewaschen war nicht mehr optisch vergleichbar mit einer Wirtshausschlägerei, auch wenn es immer ein wenig seltsam anmutete, wenn ich ihn horizontal über die Badewanne halten musste, damit keinesfalls ein Tropfen Wasser in seine Augen gelangte.

In der Therme wagte er sich todesmutig, aber stolz wie Oskar, die Rutsche für Kleinkinder hinunter, unterbrach aber sofort jeden Versuch, ihn von einer der anderen siebenundzwanzig Wasserrutschen zu überzeugen. Insbesondere die Trichterrutsche, eine Rutsche, bei der man auf halber Fahrt in einen großen Trichter gerät und von dort aus in einen schwarzen Tunnel geleitet und letztendlich ins Fangbecken gespuckt wird, jagte ihm eine Heidenangst ein.

Heute, gute vier Jahre später, sieht das anders aus. Opa und Oma konnten ihn in intensiven Sondertrainingseinheiten in Hurghada, Mallorca, SharmElSheikh, Dahab, Ostsee, Nordsee,Gran Canaria, Griechenland sowie mehrere Male in der Türkei, auf den Malediven, in der Karibik und auf vielen anderen schönen Flecken dieser Erde fast alle Ängste nehmen. Der Schweinhund ist schon ganz schön rumgekommen, wenn man die Städtereisen nach London (Er wollte die Londoner U-Bahn sehen), Sizilien (Der Vesuv), Zermatt (Glacier-Express), Paris (Eiffelturm) und, und, und,… bedenkt. Es gab immer meistens einen konkreten Anlass, der Opas Reiseplanungen vorantrieb und ich könnte mehr erzählen darüber, was für tolle Großeltern Jason hat. Vermutlich könnte ich ein ganzes Blog füllen mit den Geschichten rund um ihre Erlebnisse mit Jay-Jay und es würde platzen vor Liebe. Er hat sein Projekt mit Opa und möchte in jedem Ozean der Erde einmal schwimmen und hat jegliche Angst vor Wasser im Laufe der Urlaube verloren. Das Tauchen stellt ihn weiterhin vor Herausforderungen, aber der Sprung auch ins tiefere Wasser ist möglich. Er erfragt vorher die genaue Tiefe und es scheint für ihn einen Unterschied zu machen, ob er im zwei Meter oder im vier Meter tiefen Becken absäuft, aber nun gut. Er duscht mittlerweile alleine und präsentierte im letzten gemeinsamen Urlauber stolz seinen ersten Kopfsprung ins Wasser. Ein großartige Entwicklung, was diese Schwierigkeit angeht.

Wo waren wir?  Ich mag es, wenn Jason der Ehrgeiz packt, und er sich ganz langsam an ein Problem herantastet, wie er sich zielsicher der einen oder anderen Herausforderung stellt, die ihn dann in der Bezwingung sichtlich Überwindung kostet. Er tastest sich dann langsam heran, entwickelt einen unfassbar ausgeprägten Ehrgeiz und ist bissig und hartnäckig, bis er sein Ziel erreicht hat. Das ist für ihn und sein Umfeld mal mit mehr oder weniger Aufwand verbunden, aber es ist ein gigantisch gutes Gefühl, wenn er sein Resultat präsentiert und er sich bestätigt fühlt, dass er alles schaffen kann.

Am Wochenende wird es wieder soweit sein. Wir fahren nach München. Wir werden auch versuchen, uns das Spiel der Unterhachinger anzuschauen, aber das Highlight wird Jason in der Therme Erding sein. Er wird sich allen Rutschen stellen, die für ihn zugelassen sind. Auch die Trichterrutsche wird dabei sein. Ich fahre da ganz entspannt hin. Es ist nicht so wie bei einem Arztbesuch oder einem anderem Termin, bei dem man weiß, dass vielleicht etwas nicht nach Plan verläuft und Eskalation droht. Klar, es könnte besonders voll sein oder die Spindnummer in der Umkleide passt ihm nicht, vielleicht rutscht ihm die Hose, oder im Bad-Bistro hauen sie ihm den Ketchup direkt über die Pommes. Alles egal.

Er wird diese Trichterrutsche rutschen und er wird stolz sein und er wird davon lange zehren können und das wird ihm Mut geben für die nächste Herausforderung. Nichts wird ihn stoppen können. Das wird tolltastisch.

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4 Comments

  • VfL Wolfsburg

    […] Posteingang könnten wir übrigens noch vertragen. Schön, dass wir mit Marks Brief für den VFL Wolfsburg einen weiteren neuen Verein dazu bekommen haben, den wir zudem jüngst noch erstmals besuchten. […]

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  • mberghoefer

    Deine Schreibe: im Netz unerreicht.

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  • jancrode

    Der Veltins-Freibierstand muss eine Fata Morgana sein. Wenn ich Montags, Dienstags, Mittwochs und Donnerstag auf der kalten Betonfläche namens ZOB stehend, auf den Betonbunker namens Phaeno blicke, sehe ich auf dem Bahnhofsvorplatz nur mürrische Pendler und die Statue zu Ehren des ersten Gastarbeiters. Wo ist nur dieses verflixte Mobil?

    Spaß beiseite: toller Text.

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  • Mark
    Mark

    Toll geschrieben. So herrlich viele Parallelen zu meiner eigenen Kindheit. Möglicherweise beruhigt es dich, wenn ich dir sage, dass sich bei mir all diese Kleinigkeiten irgendwann legten, dafür habe ich jetzt andere „Schrullen“ wie meine Familie dies gern nennt.

    Bezugnehmend auf die VfL Arena hatte ich mit mehr Euphorie gerechnet bzw vielleicht erhofft, keine Ahnung (siehe Mark liebt den VfL). Ich mag die Atmo in der Arena eben WEIL sie berechenbar ist. Je nach Gegner wird es da auch mal lauter und man hat trotzdem nie das Gefühl, dass einem die Situation entgleitet. Nächstes Mal sagt einfach Bescheid.

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